Stresslos glücklich?

Ein BEDADEVA-Blog von Bernhard Künzner

Wenn ich mich recht erinnere, gab es das Wort Stress in meiner Kindheit noch gar nicht. Wir hatten viel zu tun, klar,
mal mehr, mal weniger, aber das war eigentlich nie ein besonderes Thema. Inzwischen ist es eines der am häufigsten
verwendeten Vokabeln in der Schul- und Arbeitswelt. Und das nicht ohne Grund!
In der Stressforschung wird unterschieden zwischen Distress, also langfristige Belastungen, in denen man sich
überfordert fühlt, der als eine der Hauptursachen für chronische Erkrankungen angesehen wird, und Eustress, also
kurzfristige Belastungen, die von Ruhephasen unterbrochen werden und durchaus positiv sind. Wenn man im Alltag vom
Stress spricht, meint man in der Regel den Distress. Leider wird die ganzheitliche Bedeutung von Stress dadurch
verfälscht.
Wenn ich in Werbungen Bilder von Leuten sehe, die sich in einem Pool am Meer auf einem Schwimmsitz aalen und sich von
einem Ober im Frack einen neuen Drink reichen lassen, dann bin ich mir darüber im klaren, dass diese Darstellung nicht
ganz ernst zu nehmen ist. Sie bleibt jedoch der Traum von vielen Menschen, vor allem von jenen, die sich gerade eben im
Megastress befinden. In dieser Phase wünscht sich fast jeder einen Lottogewinn, der einem ermöglicht, seinem Chef adieu
zu sagen, in den sonnigen Süden zu fliegen und alle Viere von sich zu strecken. Keine Frage!
Ja, verrückte Träume zu haben, ist toll! Dabei wird die Fantasie trainiert und der Körper mit Glückshormonen
überschwemmt. Aber wären diese Glückshormone auch dann noch in unserem Körper, wenn diese Träume zur Realität würden?
Diese Frage muss wohl jeder für sich selbst beantworten. Ich bezweifle es.
Ich bin der festen Überzeugung, dass gerade die Aufgaben und Pflichten, die wir ablehnen, essenziell für ein
glückliches Leben sind. Wie meine ich das?
Wenn wir dem reinen Hedonismus verfielen und nur noch das täten, was uns Lust verspricht, würden wir früher oder später
gar nichts mehr tun. Stellt euch vor, ihr hättet ein fixes Einkommen aus einem Vermögen oder als Versorgungsempfänger,
das euch in die Lage versetzt, nie mehr arbeiten zu müssen. Das Einkommen würde sogar dafür ausreichen, euch einen Koch
und eine Haushaltsangestellte zu leisten. Alles würde für euch getan. Welchen Anreiz hättet ihr dann, am Morgen das Bett
zu verlassen? Gut – ihr könntet Sport machen, euch sozial engagieren, auf Reisen gehen, ein Buch schreiben, malen o.ä.,
aber führen alle diese Beschäftigungen nicht automatisch Tätigkeiten und Befindlichkeiten im Schlepptau, die uns keinen
Lustgewinn einbringen? Ich denke dabei beim Sport an die Überwindung, auch bei schlechtem Wetter rauszugehen, beim
sozialen Engagement an einen Rucksack von moralischen Verpflichtungen, beim Reisen an das Schlangestehen beim Check-in,
beim Schreiben an die mühsame Sammlung und Verknüpfung von Inhalten, beim Malen an das Reinigen der Pinsel. Das sind
Tätigkeiten, die einem kein Angestellter abnehmen kann, die aber gemacht werden müssen. Für jemanden, der gewohnt ist,
Dinge zu tun, die ihm primär keinen Spaß machen, ist das alles ein Klacks. Für den anderen jedoch, den Hedonisten,
werden sie zu einer schier unüberwindlichen Hürde. Es ist nun mal seine fixe Weltanschauung, dass das Leben Spaß machen
soll, und wenn das nicht bis ins kleinste Detail hinein funktioniert, ist das Leben nicht lebenswert! Das Ergebnis:
tiefe Frustration. Wer hingegen diesen inneren Widerstand nicht aufbaut, wer keine Bewertung darüber abgibt, ob
Tätigkeiten Spaß machen oder nicht, sondern sie einfach tut, erreicht gerade dadurch ein großes Maß an Freiheit. Die
Einstellung zu den Tätigkeiten macht den Unterschied!
Ich kann meine Steuererklärung wochen- und monatelang vor mich herschieben, weil ich sie nicht machen will. Dadurch
gebe ich einer relativ einfachen, zeitlich begrenzten Pflichtaufgabe Macht über mein Wohlbefinden. Ich fühle mich
schlecht, weil eine Stimme in mir immer sagt: Ich sollte eigentlich…! Etwas wegzuschieben erfordert Energie. Wenn ich
hingegen die Ärmel hochkremple und mich an die Arbeit mache, treffe ich eine weitreichende Entscheidung. Ich sage zu mir
selbst: Ich kann das! Ich weiß noch nicht, was auf mich zukommt, aber ich werde es schaffen, so wie ich alle anderen
Aufgaben schaffen werde, die ich mir vornehme!
Und in Nullkommanix werden auch ungeliebte Tätigkeiten zur Routine. Dann kann ich sie erledigen, ohne ihnen zu viel
Aufmerksamkeit zu schenken, und bekomme den Kopf frei, um über spannendere Projekte nachzusinnen. Dadurch werde ich
leistungsfähiger. Neue, unbekannte Aufgaben werden nicht mehr als Bedrohung gesehen, sondern als Herausforderung. Mein
Gehirn lechzt geradezu danach, neue neuronale Verknüpfungen zu bilden, die über die bekannten, routinemäßigen
hinausreichen. Ja! Unser Gehirn liebt Veränderungen. Es ist plastisch und kann sich auf fast alles einstellen, wenn wir
es trainieren. Hand aufs Herz – geht es euch nicht auch so, dass ihr nach jedem Urlaub, in dem ihr Stress vermieden
habt, langsamer im Denken geworden seid?
Antoine de Saint-Exupéry hat gesagt: Glück ist, sich an dem Erreichten zu freuen und Neues zu erschaffen.
Das bedeutet eben nicht, sich zurückzulehnen und darauf zu warten, was kommt, sondern aktiv zu werden und selbst zu
gestalten, was einem lebenswert erscheint.
Stressfrei leben zu wollen ist zu wenig für ein Lebensziel. Die Kunst, glücklich zu leben, basiert auf dem Wissen, dass
es immer unsere Entscheidung ist, das Leben in seiner ganzen Fülle anzunehmen oder nicht. Ich kann nicht bestimmte Teile
daraus ablehnen und vollkommenes Glück erwarten.